In Gedenken an Gerhard Riege, 23. Mai 1930 – 15. Februar 1992

Holger Hänsgen

"Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Sie ist mir in der neuen Freiheit gebrochen worden. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird, und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Hass, der mir im Bundestag entgegenschlägt aus Mündern und Augen und Haltungen von Leuten, die vielleicht nicht einmal ahnen, wie unmoralisch und erbarmungslos das System ist, dem sie sich verschrieben haben. Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Vernichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen."

Aus dem Abschiedsbrief von Prof. Dr. Gerhard Riege

Vor 32 Jahren, am 15. Februar 1992, nahm sich der thüringische PDS-Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Gerhard Riege, das Leben. Anfang 1992 wurde bekannt und mit Vorurteilen und Vorwürfen durch die Medien gezogen, dass er zwischen 1954 und 1960 für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR gearbeitet habe. Was war dran? Magere 4 Berichte schrieb er in dieser Zeit. Selbst der damalige Stasi-Unterlagenbeauftragte Joachim Gauck maß dem nur geringe Bedeutung bei. Die „öffentliche Meinung“ jedoch, ließ in den frühen 1990er Jahren keine Chance für eine sachliche Debatte. Obwohl Gerhard Riege in seinem Leben schon viele Höhen und Tiefen erlebt hatte, obwohl seine Familie hinter ihm stand: dieser scharfen politischen Hetzjagd hielt er nicht mehr stand und wählte für sich den endgültigsten aller Wege.

Wer war Gerhard Riege?

1930 in Gräfenroda bei Ilmenau in einfachsten, antifaschistischen Familienverhältnissen geboren, ging er in Neudietendorf zur Schule und erlebte er die Auswirkungen des 2. Weltkrieges. Eine seiner Konsequenzen daraus war sein Eintritt als 16jähriger 1946 in die SED.

Seit 1949 verbanden ihn bis zu seinem Lebensende Studium, Forschung und Lehre mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU). Nach dem Studium der Rechtswissenschaften bis 1953 promovierte er 1957. Nach seiner Habilitation 1964 zum Thema „Die Staatsbürgerschaft der DDR“ wirkte er ab 1965 als Professor für öffentliches Recht, Staats- und Verfassungsrecht. Viele Publikationen über Staatsbürgerschaftsrecht und Verfassungsgeschichte (darunter über die Bildung des Landes Thüringen 1920/21), aber auch soziologische Forschungen zeugen von seinem großen Fleiß und seinem umfangreichen Wissen.

Dabei war er durchaus kritisch und diskussionsfreudig. Aber eben nicht stromlinienförmig genug. Das verhinderte bereits in der DDR einen ersten Versuch, Rektor der FSU Jena zu werden.

Riege war nicht nur international in der Fachwelt anerkannt und vernetzt, sondern auch beliebt bei seinen Studenten und vielen Kollegen an der Jenaer Universität. Er galt als höchst integer. Daher wurde das PDS-Mitglied Gerhard Riege am 23. Februar 1990 zum ersten Rektor der FSU Jena nach dem Ende der SED-Herrschaft in der DDR gewählt. Diese Wahl wurde allerdings am 6. März 1990 unter fadenscheinigen Begründungen („Formfehler“) mit knapper Mehrheit annulliert.

Im Frühjahr 1990 wurde unter Rieges Leitung am Lehrstuhl Staatsrecht der Sektion Rechtswissenschaften der FSU Jena ein erster Verfassungsentwurf für das erst im Oktober 1990 gebildete Land Thüringen erarbeitet. Dieser enthielt viele basisdemokratischer Ansätze, viel mehr, als 1993 dann tatsächlich in die Thüringer Landesverfassung aufgenommen wurde.

Am 18. März 1990 in die letzte Volkskammer der DDR gewählt, wurde er kurze Zeit darauf Spitzenkandidat der Thüringer PDS zur Bundestagswahl und errang am 2. Dezember 1990 eines der zwei thüringischen PDS-Bundestagsmandate. Waren es in der DDR oft eigene Genossen, die ihm das Leben schwer machten, wurden es nun vor allem politische Wendehälse und zunehmend aggressive Gegner anderer Bundestagsparteien, die sich an ihm abarbeiteten. Ein Beispiel: Rieges kurze Bundestagsrede in der Haushaltsdebatte vom 13. März 1991 wurde mehr als 30 Mal durch zum Teil äußerst unflätige Zwischenrufe unterbrochen, ohne daß der amtierende Bundestagspräsident ernsthaft einschritt. 1

Ich lernte Gerhard Riege 1990 kennen, in einer Arbeitsgruppe der Thüringer PDS, die ab Herbst 1990 einen Verfassungsentwurf für das Land Thüringen erarbeitete. Es war Vergnügen, ein Erlebnis, mit ihm nicht nur über Staats- und Verfassungsrecht zu debattieren und zu argumentieren. Unserem Verfassungsentwurf, vorgelegt am 22. Juli 1991, ging es jedoch nicht besser als dem aus der FSU Jena.

Aktiv wirkte Gerhard Riege in dieser Zeit auch im „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“. Dort setzten wir uns mit vielen anderen Menschen aus unterschiedlichen Parteien und Bewegungen für eine Verfassung für Deutschland ein: verabschiedet durch Volksentscheid, anstelle des eigentlich provisorischen „Grundgesetzes“. Schon in dieser Zeit versuchte man gegen geltendes Recht, gegen seine parlamentarische Immunität, ihn als Professor für Staatsrecht von der FSU Jena abzuwickeln. Dagegen setze es sich bis zum Schluß zur Wehr.

Aber dieser Kampf im ganzen Jahr 1991 zehrte sehr an seiner Kraft. Zu sehr. „Gerhard Riege gab anderen Kraft im Kampf für eine gerechte und menschliche Gesellschaft, die ihm dann selbst fehlte“, schrieb sein Freund und Bundestagskollege Prof. Uwe Jens Heuer im März 1992. 2

Schäbig war das Verhalten der Führung der Friedrich-Schiller-Universität nach Gerhard Rieges Tod: Räumlichkeiten für die Trauerfeier stellte sie nicht zur Verfügung. Rund 1000 Menschen standen dicht gedrängt im kirchlichen Jenaer Luther-Haus und davor und hörten die bewegenden Trauerreden von Gregor Gysi sowie seiner beiden (westdeutschen) Freunde und Verfassungsrechtler Prof. Hans von Mangoldt und Prof. Helmut Ridder.

Professor Rieges Selbstmord war ein trauriger Höhepunkt des kalten Krieges gegen Andersdenkende im zusammengeschlossenen Deutschland, vor allem gegen Menschen, die ehrlichen Herzens in der DDR eine Gesellschaft frei von Ausbeutung zu errichten versuchten. Gerhard Riege hatte in seinem Abschiedsbrief recht: „Solange es die PDS gibt, wird es auch den Stachel der Erinnerung an einen Versuch der Alternative und an die eigene Vergangenheit seit dem Zweiten Weltkrieg wachhält.“ DIE LINKE sollte dieses Erbe achten.

Holger Hänsgen,

Landesschatzmeister DIE LINKE. Thüringen

1 Nachzulesen unter https://dserver.bundestag.de/btp/12/12014.pdf#P.737 , Seiten 840-842

2 Aus „Neues Deutschland – Neue Verfassung?!“ Uwe Jens Heuer, Gerhard Riege [Hg.] (Pahl-Rugenstein)